Posts Tagged ‘Grundschulbezirke’

Die vier Säulen des künftigen Schulwesens in NRW

Oktober 1, 2007

Sommernebel.

Ein Stück weiter gedacht

Frau Schulministerin Barbara Sommer möchte die Schule in NRW grundlegend reformieren, um die Sitzenbleiberinnen Quote bis 2009 um 50% zu reduzieren. Eine Klasse zu wiederholen sei nur dann sinnvoll, wenn tatsächlich der gesamte Lernstoff des Schuljahrs nicht verstanden worden ist, so Sommer sinngemäß. Die 60.000 Wiederholer seien außerdem sehr teuer und würden 3000 Lehrer binden, die in anderen Aufgabenbereichen wesentlich effektiver und effizienter eingesetzt werden könnten, so die Ministerin.

Um noch in dieser Legislaturperiode ihr Ziel zu erreichen, soll dem beunruhigend hohen Unterrichtsausfall entgegengewirkt werden. Zu diesem Zweck stellt die Ministerin 4000 Lehrerinnen zusätzlich ein, mit weiteren 500 Stellen will sie im gleichen Zeitraum den Ganztagsbetrieb an den Hauptschulen ausbauen. Die dazu erforderlichen Geldmittel sollen durch Einsparungen in anderen Ressorts rückfinanziert werden. Diese personellen Verbesserungen seien jedoch nur flankierende Maßnahmen, welche die folgenden, auf vier Säulen ruhenden grundlegenden Reformen rahmen sollen:

· Individuelle Förderung aller Schülerinnen

Jede Schulleiterin trägt die Verantwortung dafür, dass leistungsschwache Schülerinnen so gefördert und unterstützt werden, dass Sitzenbleiben nur noch in begründeten Ausnahmefällen nötig und möglich ist. Schulen, die das Sitzenbleiben aus ihrem Profil streichen, werden honoriert werden.

· Durchlässigkeit der Schulformen

In der 5. und 6. Klasse soll am Ende jedes Schulhalbjahres geprüft werden, ob die schulischen Leistungen einer Schülerin sich auf einem Niveau stabilisiert haben, dass ein Aufsteigen in eine höhere Schulform sinnvoll macht.

· Die Eigenverantwortung der Schulen soll gestärkt werden.

Jede Schule ist für ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit selbst verantwortlich. Keine Schülerin soll mehr in der Masse verloren gehen.

· Wettbewerb um pädagogische Konzepte.

Schulen werden künftig ihr eigenes Profil entwerfen und um die Gunst der Eltern konkurrieren. Damit Erziehungsberechtigte die neuen Wahlmöglichkeiten voll ausschöpfen können, sollen folgerichtig die Grundschulbezirke aufgelöst werden. Das Kind kann dann künftig angemeldet werden, wo es nach Auffassung der Anmeldenden am besten betreut ist. Pendlern wäre es dann auch möglich, ihren Nachwuchs in der Nähe ihres Arbeitsplatzes beschulen zu lassen. Sollten Lehranstalten künftig nicht mehr frequentiert werden, sollen sie geschlossen werden, um die Haushaltskasse der Städte und Kommunen zu entlasten.

Kommentar:

Pünktlich zum Ende der Sommerferien stellt die nordrhein-westfälische Schulministerin Barbara Sommer ihre Reformpläne für die verbleibende Legislaturperiode vor. Wer die Geduld aufbringt und bienenfleißig die über viele Nachrichtenkanäle verstreuten Informationskrümel zusammensammelt (WZ, RP, WDR, Bildungsserver) muss sich fragen, was Sommer eigentlich will. Geht es um reinen Aktionismus oder will sie sich, wie sie es selbst ausdrückt, daran prüfen lassen, wie man jungen Menschen am besten gerecht wird? Dann wäre sie bei mir aber durchgefallen. Das möchte ich wie folgt begründen.

Bravo, die Lehrerinnenkollegien werden verstärkt, Kopfnoten für Arbeits- und Sozialverhalten werden eingeführt, unentschuldigte Fehlstunden aber auch außerschulisches Engagement werden im Zeugnis vermerkt, kein Kind soll mehr in der Masse verloren gehen, jede Schülerin soll individuell gefördert werden, Schulleiterinnen übernehmen einen Großteil Verantwortung für gelingendes Lernen an der Schule. Heile neue (Schul)Welt?

Oberflächlich betrachtet ist es natürlich wünschenswert, dass Mädchen und Jungen nicht ein ganzes Jahr verlieren, wenn es effektive und effiziente Alternativen gibt. Doch die kennt die Frau Ministerin wohl auch nicht, jedenfalls suchen Leserinnen in den Artikeln vergebens danach. Ebenfalls erklärt die Schulministerin nicht, was überhaupt unter dem Begriff individuelle Förderung verstanden werden soll. So macht sich jede ihr eigenes Bild – und alle sind zufrieden?

Aus sozialpädagogischer Sicht versteht man unter individueller Förderung eine ganzheitliche, genau auf die Person zugeschnittene Unterstützung, die immer auch die Persönlichkeitsbildung mit einschließt. Dann sind ‘Verhaltensnoten‘ für die Erstellung einer Sozialprognose ein wertvolles Werkzeug um maßgeschneiderte Förderkonzepte zu erstellen.

Gerade deshalb sollten gemeinsam entworfene, für alle Schulen gleichermaßen gültige Richtlinien für diese ‘Kopfnoten‘ entwickelt werden, die traditionelle Rollenbilder bewusst aufweichen. Nur so können schon Grundschülerinnen lernen, Gestaltungsgrenzen zu erkennen und zu akzeptieren, andererseits Handlungsspielräume zu schaffen und voll aus zu schöpfen. Dies ist sicher lohnenswertes Förderziel.

Was immer die Schulministerin mit 4500 zusätzlichen Arbeitsstellen erreichen will, die Sitzenbleiberinnenquote lässt sich bei den Lern- und Arbeitsbedingungen an vielen unserer Schulen in NRW kaum verwirklichen. Alltagsbeispiel:

In einer Grundschulklasse sind 23 Mädchen und Jungen, 15 SchülerInnen haben Migrationshintergrund, sie stammen aus 10 verschiedenen Herkunftsländern und wachsen in Familien mit sehr unterschiedlicher Lebensbiographie und verschiedenem sprachlich-kulturellem Hintergrund auf. Die Mehrzahl ist muslimisch, die Schule ist für all diese Kinder aus Zuwandererinnenfamilien der einzige Übungsort der deutschen Sprache, weil zu Hause nicht deutsch gesprochen wird und von den Kindern, aus welchen Gründen auch immer, kaum Kontakt zu deutschen Klassenkamaradinnen gesucht wird. Integrations- und Orientierungskurse haben die Eltern nicht besucht oder sie wenden die erworbenen Kenntnisse trotz der dringenden Empfehlungen der Klassenlehrerinnen nicht an. Besonders die Mädchen mit fundamentalistisch-muslimischer Sozialisation sind in ihrer Lernentwicklung stark eingeschränkt.

Die oben beschriebene Situation ist an Grund- und Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen keine Seltenheit. Diese Tatsache dürfte auch an der Frau Ministerin nicht vorbei gegangen sein. 4000 zusätzliche Lehrerinnen ändern daran nichts. Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass auch leistungsstarke Schülerinnen ein Recht auf an ihren Fähigkeiten und Neigungen orientierte Förderung haben. So lässt sich das weit auseinander klaffende Leistungsniveau in Klassen nicht beheben.

Bei einer solchen ‘Eliteförderung‘ bestünde die Gefahr, dass Leistungsschwache glauben den Anschluss nun endgültig verloren zu haben, noch mehr entmutigt werden und aufgeben oder jene ‚Streberinnen‘ nicht akzeptieren und mobben. Ebenfalls befürchte ich, dass manche ‚Besserwissies‘ leistungsschwächere SchülerInnen verachten. Wäre es daher auch vor dem Hintergrund des miteinander Konkurrierens der Schulen nicht sinnvoller, zunächst die Schülerinnen mit schlechten Noten zu fördern und dann bei ausgeglichenem Leistungsstand die anderen mit einzubeziehen?

Natürlich wird beim Unterrichtsinhalt das in der Regel geringe Leistungsniveau der Klasse berücksichtigt, zugleich aber ist ein Lehrplan einzuhalten. Ein großer Anteil des Förderunterrichts wird also in den Nachmittagsbereich verlegt werden müssen. Die Ausdehnung des Ganztagsbetriebs auf Hauptschulen ist daher unbedingt notwendig. 500 zusätzliche Stellen sind da sicherlich hilfreich, aber gemessen am tatsächlichen Bedarf, da die Mädchen und Jungen auch spielen und herumtoben sollen, leider nicht mehr als ein schlechter PR-Gag.

Nach meiner Erfahrung sind Ganztagsschule und Nachmittagsbetreuung bisher höchstens dafür geeignet, Kinder und Jugendliche ‘von der Straße’ zu holen und damit dem Blick der kritischen Öffentlichkeit zu entziehen. Eine reine ‘Kasernierung‘ der Kinder und Jugendlichen ist jedoch nicht dazu geeignet, die Sitzenbleiberinnenquote zu reduzieren. Diesen Eindruck muss ich jedenfalls haben, wenn ich die Bedingungen betrachte, unter der so genannte Hausaufgaben- und Nachmittagsbetreuung sowie Lernförderung in der Regel stattfindet.

Viel zu große Gruppen werden meist von nicht eigens geschulten ehrenamtlich Tätigen, von 400‑€‑Kräften oder von Klientinnen der ARGE, die schlechtestenfalls nie mit Kindern und Jugendlichen arbeiten wollten, betreut. Bei einem Personalschlüssel von 1/12, günstigstenfalls 1/10 ist es unmöglich, die nötige Ruhe und lernförderliche Atmosphäre herzustellen, auch weil nicht selten Lern- und Spielbereich nicht weit genug voneinander entfernt sind.

Oft reicht die Qualifikation der Betreuungskräfte nur aus, das Silentium zu beaufsichtigen, kontrolliert und korrigiert werden die Aufgaben nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Zusammensetzung der Lerngruppen wie oben beschrieben sehr heterogen ist. Das größte Problem sind die geringen Sprachkenntnisse. Einfache Arbeitsaufträge werden oft nicht verstanden und müssen erst einmal in für die Kinder und Jugendlichen verständliche Sprache umgesetzt werden (Schulbuch: ‘Überprüfe das Ergebnis mit der Überschlagprobe‘, darauf das zehnjährige türkische Mädchen: “Was ist ein Ergebnis?“). Manche Schülerinnen sind wenig motiviert und brauchen Ermutigung und Zuwendung.

Unter solch sowohl extremen wie zugleich alltäglichen Arbeitsbedingungen kann Schule bereits heute ihrem Förder- und Betreuungsauftrag nicht gerecht werden, sie wird zur reinen Verwahranstalt. Auch hier fehlen gemeinsam entwickelte, genderbezogene Richtlinien, die zur Sicherung und Verbesserung der Qualitätsstandards dienen und die von unabhängig zertifizierten Gremien permanent überprüft werden.

Schulen sollen künftig mit eigenen pädagogischen Konzepten um die Gunst der Eltern wetteifern. Wie dieser Wettbewerb aussehen soll, das überlässt die Ministerin offensichtlich der Innovation der Schulen. Außerdem vertraut sie da ganz auf die Entscheidungskompetenz der Eltern, die wohl schon wissen werden, wo ihr Nachwuchs am besten gefördert werden wird.

Prima, und was ist, wenn die sich nicht sicher sind? Wenn größere Entscheidungsfreiheit bei der Schulauswahl nicht zur Tyrannei der Wahlmöglichkeiten werden soll, dann müssen Schulen ihr Profil in der Öffentlichkeit ausführlich darstellen und pädagogische Konzepte erklären. Um jedoch ‘Schönfärberei‘ zu vermeiden, sollte jegliches Werbematerial allgemein gültige Qualitätsstandards erfüllen, die von externen, unabhängigen Kontrollinstanzen überprüft werden.

Wenn die Auflösung der Grundschulbezirke auch Handlungsoptionen zu erweitern scheint, sollten die Argumente nicht übersehen werden, die vor einer Ghettoisierung von Schülerinnen mit Migrationshintergrund warnen.

Nachdem es bisher den Lehrerinnen aus den beschriebenen Gründen nicht gelungen ist, das Leistungsniveau in ihren Klassen anzugleichen und zu bessern (s. einschlägige Testergebnisse) ist es mir völlig unklar, wie sie pünktlich zum Schuljahresbeginn 2007/2008 quasi aus dem Nichts in der Lage sein sollen, auf das einzigartige Lernprofil jeder Schülerin genau zugeschnittene Förderpläne zu entwerfen und vor allem umzusetzen (fehlende zeitliche und personelle Ressourcen).

Ebenfalls würde mich interessieren, nach welchen Kriterien Schulaufsichtsämter Schulen mit hohen Sitzenbleiberinnenquoten andere Schulen, wie von Frau Sommer, vorgesehen ‘beraten‘ und auf welchen plötzlichen Erkenntnissen eben diese Tipps und Lösungskonzepte beruhen. Schön, wenn Kompetenzteams für Fortbildung sich jetzt der individuellen Förderung und der Reduzierung der Sitzenbleiberinnenquote als Schwerpunktthemen widmen, nur: woher sollen die Erkenntnisse denn so plötzlich herkommen? Wie wird sich das kollegiale Verhältnis zwischen Förderschwerpunktschulen und ‘Restschulen‘ entwickeln? Werden diese Schwerpunkte auch in den Lehrplan an Hochschulen einbezogen?

Ich befürchte, dass Wettbewerbssituation und Zertifizierungskriterien dazu verleiten könnten, mittels ‘kreativer Buchführung‘ Zahlen zu ‘frisieren‘, man setzt einfach die Leistungsstandards und Beurteilungskriterien herunter (die Schülerin wird nicht sitzenbleiben, weil ihr das nicht hilft: “wir werden sie einfach mit durchziehen“, so eine Grundschullehrerin bereits heute). Deshalb sollten allgemeingültige Qualitätsstandards für die Bewertung von Klassenarbeiten und die Beurteilung des allgemeinen Leistungsstandes von unabhängigen Gremien bindend vereinbart werden, deren Standards ihrerseits offengelegt werden müssen. Das allerdings würde die Sitzenbleiberinnenquote eher erhöhen.

Anders als die Ministerin glaube ich, dass Schulen angesichts des bevorstehenden Wettbewerbs die Durchlässigkeit der Schulformen dafür benutzen werden, schlechte Schülerinnen abzuschieben. Dieses Verhalten wird besonders attraktiv, wenn Schulen ohne Klassen-Wiederholerinnen mit begehrten Qualitätssiegeln und 50% Stellen belohnt werden.

Wird es unter diesen Voraussetzungen überhaupt möglich sein, offen und ehrlich die eigene Schule zu kritisieren oder werden Lehrerinnen sich zukünftig wie diplomierte ‘unter den Teppich Kehrerinnen‘ fühlen?

Mir ist schleierhaft, wie eine im Schulwesen so beheimatete Frau, mit theoretischen und praktischen Erfahrungen als Mutter, im Studium, als Sonderschullehrerin, Grundschullehrerin, Rektorin, Schulrätin sowie Schulamtsdirektorin so wirklichkeitsfremd argumentieren kann.

Wozu dieser Vernebelungsversuch? Die Bürgerinnen mit halben Informationen hinzuhalten, um sie anschließend mit Unschuldsmine vor vollendete Tatsachen zu stellen?

Wenn die Ehefrau des IHK-Präsidenten von Ost-Westfalen die Privatisierung der Schulen forcieren möchte, soll sie das doch sagen. Die Bürgerinnen hätten dann die Chance, nach guter demokratischer Sitte diesen Sachverhalt zu diskutieren.

Ümmühan Karagözlü

[1] Diese Abhandlung wird von einer Autorin verfasst. Sie beschreibt und reflektiert insbesondere Lebenslage und Perspektiven von Migrantinnen in der BRD. Daher verwendet die Autorin generell die weibliche Sprachform (geschrieben: Sozialpädagoginnen, Bürgerinnen etc.), Männer sind ganz selbstverständlich mit gemeint