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Für ein selbst bestimmtes Leben – nicht erst im Paradies.

November 26, 2007

Gegen die Unkultur des Schweigens

Hatun Aynur Sürücü war das fünfte von acht Kindern der Familie Sürücü, das älteste Mädchen. Schon sehr früh war sie eine starke Persönlichkeit, die sich als Jugendliche das Recht nahm zu fragen, zu zweifeln und zu widersprechen. Ihr Vater behauptete, dass daran der demokratische Unterrichtsstil der Schule und der Kontakt zu den SchulkameradInnen schuld seien. Daher beschloss er den freiheitsliebenden, widerspenstigen Teenager vor den ‚verführerischen Verlockungen der westlichen Verderbnis‘ fernzuhalten und zu schützen. Die Familienehre durfte auf keinen Fall besudelt werden. Also meldete er die erfolgreiche Schülerin ohne Begründung in der achten Klasse des Robert-Koch-Gymnasiums von der Schule ab, um sie bald darauf mit sechzehn Jahren an einen Cousin zwangszuverheiraten. Die Lehrer und die Schulleitung hinterfragten die Entscheidung, dass die Jugendliche die Schule verlassen sollte, nicht. Ihnen genügte der telefonische Hinweis.

Das frisch verheiratete Paar lebte bei der Familie des Mannes im kurdisch geprägten Teil Nordanatoliens in der Türkei, das die Heimat der Brauteltern war. Wenn Hatun auch aus einer ähnlich streng patriarchal-muslimisch orientierten Familie stammte, hatte sie in Berlin wenigstens noch die ehemaligen MitschülerInnen und das Großstadtmilieu einer Weltmetropole, um ab und an der familiären Enge zu entfliehen. Hier, in der dörflichen Abgeschiedenheit der kurdischen Steppe hingegen, war der Alltag ausschließlich durch die harte Handarbeit im Haus und auf dem Feld sowie die traditionellen Genderbilder und die vormodernen Regeln des orthodoxen Islam und des patriarchalischen Clans bestimmt.

Jeder Tag glich dem anderen, man sah immer die gleichen Leute, die aus den gleichen hierarchischen Familienstrukturen kamen, man redete immer über die gleichen Themen. Für eine sehr junge Frau, die an hektische Betriebsamkeit, technischen Fortschritt, bunte Schaufenster, pünktliche, öffentliche Verkehrsmittel, Begegnung mit Menschen aus verschiedenen Kulturen und Lebenswelten sowie ständigen Wandel gewöhnt war, eine schier unerträgliche Monotonie. Zu allem Überfluss wurde die jungendliche Ehefrau schwanger, bevor sie auch nur eine geringe Chance gehabt hätte, sich einzugewöhnen.

Es dauerte auch nicht lange, da hatte sie sich so sehr mit ihrem Ehemann und dessen Familie zerstritten, dass die von schrecklichem Heimweh geplagte werdende Mutter allen Mut zusammennahm, sich trennte und fluchtartig zu ihrer Ursprungsfamilie nach Deutschland zurückkehrte. Kurze Zeit später brachte Hatun Aynur ihren Sohn Can zur Welt. Für sie begann nun ein völlig neuer Lebensabschnitt, weshalb sie sich selbst den zweiten Vornamen Aynur (Mondlicht, hell leuchtend wie der Mond) gab. Nach der Geburt lebte die junge Mutter für kurze Zeit gemeinsam mit dem Säugling im Haushalt ihrer Eltern.

Als streng gläubige Muslima sozialisiert, kannte Hatun Aynur die extrem traditionellen Ansichten über Familie, Mutterschaft, weibliche Lebensentwürfe und Geschlechterrollen, doch konnte sie sich als selbstbewusste, autonome Persönlichkeit diesen Vorschriften nicht unterwerfen. Besonders widerstrebte ihr die in diesen Familienstrukturen übliche Kontrolle über unverheiratete Frauen. Konnte sie früher durch den Schulbesuch wenigstens zeitweise ausweichen, war sie jetzt, als ledige Mutter ohne Schutz ihres Ehemannes, den sie ohne einen von der Scharia erlaubten Entschuldigungsgrund verlassen hatte, einer jede Individualität und jeden Freiraum einschränkenden Verhaltensdoktrin unterworfen. Diese symbolischen Fesseln des Gefängnisses Familie konnte sie nicht auf Dauer ertragen, verließ auch ihre Ursprungsfamilie im Streit und zog mit ihrem Baby in ein Wohnheim für junge Mütter.

Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben wirklich frei von Überwachung und gängelnder Bevormundung, bemühte sich Hatun Aynur ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu organisieren. Brauchte sie zu Anfang noch psychologische und sozialpädagogische Unterstützung, gelang es ihr zunehmend besser, Eigenverantwortung zu übernehmen. Neuen Herausforderungen wie der Führerscheinprüfung stellte sie sich zunehmend selbstsicher, der bestandene Hauptschulabschluss, den sie nachgeholt hatte, war ein besonders wichtiger Meilenstein in ihrer Persönlichkeitsentwicklung. War ihr langes, dichtes Haar zu diesem Zeitpunkt noch gänzlich mit einem Kopftuch bedeckt, lehnte sie von da an das Tragen eines Schleiers ab, verbannte die fußlangen Mäntel und unvorteilhaften Kittel in die Mottenkiste, kleidete sich modern, schminkte sich manchmal, schnitt die Haare kurz und tönte sie.

Nun fühlte sie sich stark genug, eine eigene Wohnung zu suchen, begann eine Lehre als Elektroinstallateurin und fand in dem von Männern dominierten Beruf schnell ihren Platz. Sie schloss die Lehre erfolgreich ab und stand Anfang 2005 sogar kurz vor ihrer Gesellenprüfung. Vier Jahre hatte sie trotz der zusätzlichen Belastung als berufstätige Hausfrau und alleinerziehende Mutter durchgehalten, soviel Energie, Zielstrebigkeit und Lerneifer bringt nur jede(r) zweite Jugendliche trotz günstigerer Lebensumstände auf. Sie war so stolz auf sich, aus eigener Kraft ihr Leben zu meistern, dass sie auch ihre Familie an ihrer Freude Anteil nehmen lassen wollte und wieder Kontakt aufnahm, obwohl sie von Freunden gewarnt worden war. Es lag der mutigen Pionierin wirklich viel daran, von ihren Eltern und Geschwistern nicht als widerspenstige Rebellin und missratene Tochter/Schwester, sondern als eigenständiger, entscheidungsfähiger Mensch mit dem Anrecht auf eine individuelle Biographie akzeptiert zu werden. Sie ging daher das Risiko ein, die Schwestern hin und wieder zu sich einzuladen.

Später gelang es ihr sogar, das Verhältnis zur Mutter zu bessern und sich mit ihr öfter in einem Café zu treffen. Sie hatte dann meist auch ihren Sohn mit. Nach einiger Zeit besuchte der Junge die Großeltern regelmäßig in deren Wohnung. Dass sie selbst, wenn sie Can brachte oder abholte nicht mit herauf kommen durfte, sondern vor der Tür draußen warten musste, kränkte sie zwar, doch nahm sie es hin und hoffte auf die Zukunft. Schließlich hatte sich in den letzten Monaten die Beziehung zu den Verwandten unerwartet positiv verändert, warum sollte da eine weitere Normalisierung ausgeschlossen sein? Diese Einschätzung war allerdings sehr optimistisch und ließ außer Acht, dass Menschen sich und ihre Einstellungen nur dann zu ändern bereit sind, wenn sie einen Gewinn darin sehen, sich die Mühe zu geben, Eingeübtes, leicht von der Hand Gehendes aufzugeben und Neues zu wagen. Hatun Aynurs Gewinn war Freiheit und Lebensqualität im Hier und Jetzt. Ein solcher, wie auch immer gearteter Bonus war für die Familie nicht sichtbar.

Can, mittlerweile fünf Jahre alt, war der stark an die Mutter gebundenen Kleinkindphase entwachsen. Seine Aufnahme in die ‚muslimischen Männerwelt‘, symbolisiert durch das islamische Beschneidungsritual, die Sünnet, stand nun kurz bevor. Nach der Sunna, sozusagen dem ‚Knigge‘ für eine Allah wohlgefällige Lebensweise, war nun die Ablösungsphase von der Mutter und den miterziehenden weiblichen Familienmitgliedern vorgesehen, die Verantwortung für die Vorbereitung auf ein Leben als gottesfürchtiger Moslem lag nun bei den männlichen Verwandten, die künftig seine häufigsten und engsten Bezugspersonen werden sollten. Deshalb das starke Interesse der Familie an den Besuchen des Jungen, ein in diesem Moment besonders willkommenes Faustpfand für die Tradierung ihrer Lebenskonzepte.

Das für konservativ denkende Muslime provokant individualistische Auftreten ihrer ältesten Tochter/Schwester gefährdete die patriarchale Hierarchie und stellte die lebensfeindliche, ausschließlich auf die Freuden im Jenseits orientierte Auslegung des Islams in Frage. Die Gefühlskälte und Distanz, die dem ’schwarzen Schaf‘ der Familie entgegen gebracht wurde, erleichterte einerseits den Umgang mit der Tochter/Schwester, die sie irgendwie doch liebten, andererseits resultierten sie aus der Verachtung deren Person. Zumindest der Vater und die älteren Brüder hatten den mittlerweile wieder häufigeren telefonischen und den meist auf die engsten weiblichen Verwandten beschränkten persönlichen Kontakt lediglich billigend in Kauf genommen.

Hatun Aynur hatte ihre Aufgabe als Söhnchenfabrik (Hirsi Ali) und Garantin einer natürlichen, gesunden psychischen und physischen Entwicklung des Kleinkindes Can erfüllt. Als wichtige Sozialisations- und Erziehungsinstanz weiterer Nachkommen war die junge Frau nach Ansicht ihrer zahlreichen konservativen Verwandten denkbar ungeeignet. Die experimentierfreudige, junge Berlinerin weigerte sich selbstbewusst, die ihr im Clan verpflichtend zustehende Rolle in der kulturell-vormodernen, fundamentalistisch-religiösen Weise ihrer Eltern auszufüllen. Ohne traditionelle Rollenzuteilung, die ihrerseits dazu dient, überlieferte Verhaltensmuster und Handlungsoptionen weiterzugeben, eine damit nicht unwichtige Aufgabe jeder Frau im Patriarchat, war sie wertlos und sogar eine Bedrohung für die vormodernen Lebenskonzepte sowie deren Festigung und Weitergabe. Sie war eine ständige Gefahr für die fetischisierte Familienehre.

Die Sürücüs standen daher nicht nur durch den nordanatolischen Zweig ihres Clans unter hohem moralischem Druck. Ihr Selbstverständnis von Pflicht, Anstand und Ehre wurde durch uralte Stammesgesetze und einem streng an Koran, Sunna und Scharia orientierten Islam stark geprägt. Von der Richtigkeit und Allgemeingültigkeit ihrer fundamentalistischen Glaubensauslegung überzeugt, wiesen sie jede liberalere Deutung des ‚heiligen Buches der Muslime‘ als Häresie weit von sich. Versetzt man sich in ihre Denkstrukturen, hätten sie tatsächlich in erzieherischer Hinsicht als Eltern und miterziehende ältere Geschwister total versagt, aber auch als Gläubige, vor sich selbst, vor der muslimischen Gemeinde und vor Allah sich schwer versündigt. Es war ihnen nicht gelungen, die von ihnen gelebten Traditionen an ihre älteste Tochter weiter zu geben, damit Hatun Aynur sie an ihre Kinder weitergibt. Da Frauen sowieso äußerst selten ins Paradies kommen, sie verbreiten angeblich Fitna und seien unrein, würden vor allem die Männer ihr ersehntes Ziel, das Paradies, gefährden, wenn sie untätig zuschauen würden.

Die junge Frau verletzte die Namus-Ehre beider Familien, indem sie durch nicht religiös abgesegnete Entschuldigungsgründe (z.B. Unfruchtbarkeit) die Trennung von ihrem Mann eigenmächtig durchführte. Als besonders dreist wude empfunden, dass die Abtrünnige nun wieder in der Kreuzberger Community zu lebten wagte, wo man ihre Eltern und Brüder natürlich gut kannte, zumal Hatun Aynur es riskierte, nach der Geburt ihres Sohnes sich im Streit auch von ihnen, ihrer Ursprungsfamilie, zu trennen, um beruflich wie privat sehr neue Wege zu gehen. Das alles erhöhte die Unzufriedenheit und den moralischen Druck, dem die Familie sich selbst aussetzte, der aber auch von Außenstehenden an sie weitergegeben wurde. Hier war nicht nur die ‚Ehre‘ zweier Familien auf besonders respektlose Weise gekränkt worden, sondern die Ümmet (Umma), der Islam und damit Gott. Ein Hadd-Vergehen, das laut Scharia die Tötung nach sich ziehen kann. Tatsächlich nahm spätestens mit der beginnenden Ablösung Cans aus dem alleinigen Schutz und Verantwortungsbereich seiner Mutter eine verhängnisvolle Entwicklung ihren kaum mehr aufzuhaltenden Ablauf.

Vermutlich hat der Familienrat, veranlasst durch die kurz bevorstehende finanzielle Unabhängigkeit bei Überreichung des Gesellenbriefes an die zielstrebige, integrationswillige junge Frau, in einer heimlich abgehaltenen Sitzung den baldigen Tod der 23jährigen beschlossen, deren einziges ‚Vergehen‘ es war, als deutsche Staatsbürgerin kurdischer Abstammung zu leben wie eine Deutsche. Üblicherweise sind bei Morden wegen Hadd- bzw. Namus-Vergehen mehrere Verwandte, meist die Brüder, beteiligt. Das verteilt die Schuld auf mehrere Schultern, stärkt die verschworene Gemeinschaft, den Männerbund, und … macht voneinander abhängig: Jeder Einzelne ist durch den anderen erpressbar. Meist meldet sich ein Minderjähriger oder gerade Achtzehnjähriger ‚freiwillig‘, das Verbrechen durchzuführen, weil Jugendliche und in der Regel auch noch Heranwachsende (bis 21) wegen der als geringer einzuschätzenden Einsichtsfähigkeit nach dem deutschen Jugendstrafrecht verurteilt werden und mit weniger harten Strafen zu rechnen haben.

Nach den Ermittlungen der Polizei und den Aussagen in der folgenden Hauptverhandlung lief wahrscheinlich auch in diesem Fall alles nach diesem alt bekannten Schema ab. Danach hat der älteste Bruder, Mutlu, die Pistole besorgt, der mittlere stand wohl Schmiere, der jüngste, Ayhan, gerade achtzehnjährig, hat seine Schwester erschossen. Warum Ayhan seine Freundin Melek, die er heiraten wollte, in das Mordkomplott einweihte, ist unbekannt. Vielleicht belastete ihn die Vorbereitung der Tat so sehr, dass er mit jemandem reden musste, dem er vertraute, vielleicht war es Taktik, weil Ehefrauen nicht aussagen müssen. Systemisch dürfte hoch willkommen sein, dass die Mitwisserin (Melek) nun genau weiß, was ihr im Falle verweigerten Wohlverhaltens drohen würde. Ayhan fragte Melek, ob sie bereit sei, ihn nach der Tat zu heiraten und mit ihm gemeinsam Can, Hatun Aynurs kleinen Sohn, aufzuziehen. Wie die junge Berlinerin im späteren Prozess aussagte, meinte sie sich verhört zu haben. Der vor einer Sekunde noch so vertraute, geliebte junge Mann erschien ihr plötzlich völlig fremd. Sie musste sich verhört haben. Doch da zeigte ihr Ayhan die Einschusslöcher in dem alten Blechmülleimer.

Ihr angebeteter zukünftiger Ehemann ein Mörder? War der attraktive junge Mann, den sie anhimmelte, ein potentieller Schwesternmörder? Wollte er ihr mit den Löchern im Eimer beweisen, wie ernst es ihm mit dem geplanten ‚Ehrenmord‘ war? Wollte er sie gar einschüchtern? In welche Familie war sie im Begriff einzuheiraten? Sie wusste, wie strenggläubig die Sürücüs waren, doch die eigene Schwester zu töten, weil sie vorzog, wie eine Deutsche zu leben? Wer in der Familie wusste Bescheid, war Hatun Aynurs kleine Schwester Arzu, die damals ihre beste Freundin war und durch die sie Ayhan erst kennen gelernt hatte, eingeweiht? Wie oft sagt man wütend, die oder den könnte ich umbringen, führt die Tat jedoch nicht aus! Glaubhaft, dass Melek nicht wusste, was sie denken sollte. Total verzweifelt beschloss die junge Frau mit niemandem zu reden. Auch wagte sie nicht, Arzu ins Vertrauen zu ziehen, natürlich hätte die künftige Braut sofort bei der Polizei aussagen müssen. Sie schwieg.

Vielleicht sagte sie auch nicht aus, weil sie schreckliche Angst um ihr eigenes Leben hatte, immerhin war der achtzehnjährige junge Mann in Besitz einer Schusswaffe und plante einen Mord. Würde man ihr überhaupt glauben? Welche Beweise hatte sie? Einen durchlöcherten Mülleimer? Lächerlich! Den kann jeder als Zielscheibe benutzt haben. Sie hatte weder gesehen, dass ihr künftiger Schwager Mutlu die Waffe besorgt hatte, noch war sie Augenzeugin bei den Schießübungen. Selbst wenn Ayhan persönlich den Müllbehälter verbotener Weise für Zielübungen zweckentfremdete, eine Tötungsabsicht ließ sich damit allein sicher nicht beweisen. Wie hätten die Sürücüs reagiert, wenn Melek, die als zukünftige Schwiegertochter galt, auf Grund eines vagen Verdachtes Sohn Ayhan, ihren künftigen Verlobten, angezeigt hätte? Sicher hätte der Ehemann ‚in spe‘ seine künftige Braut verachtet. Wäre die Polizei in der Lage, sie zu schützen, wenn der Verdacht sich als stichhaltig erweisen würde? Ähnliche Gedanken müssen Melek durch den Kopf gegangen sein. Sie muss sehr verzweifelt gewesen sein.

Am 7. Februar 2005, kurz vor 21 Uhr wurde Hatun Aynur Sürücü an der Bushaltestelle vor ihrer Wohnung auf offener Straße durch drei Schüsse aus nächster Nähe von ihrem Bruder Ayhan niedergeschossen und getötet.

Man hatte alles bis aufs Kleinste geplant. Wie wir wissen, war auch die Zukunft des kleinen Jungen geregelt. Am Tag nach dem Mord waren Ayhan und Melek verabredet. Wie die verzweifelte junge Frau, die vom gewaltsamen Tod Hatun Aynurs gehört hatte, später in der Verhandlung zugibt, habe sie zwar Böses ahnend, jedoch noch immer völlig ungläubig ihren Freund gefragt, ob er den Mordplan tatsächlich ausgeführt habe. Dieser gab die Tat zu. Nach der neuen goldenen Uhr gefragt, antwortete der Schwesternmörder, er habe den Wertgegenstand am Mordabend auf seinem Nachttisch gefunden. Was in diesem Moment in der jungen Frau vorgegangen sein muss, die um die Bedeutung eines solch kostbaren Geschenkes wusste, können wir nur ahnen. Sicher ist, dass sie noch größere Angst gehabt haben muss, weil sie immer noch nicht zur Polizei ging. Als sie wenige Tage nach dem Mord ihren damaligen Freund auf dessen Wunsch zur Polizei begleitete, wurde auch sie befragt. Sie sagte zunächst nicht alles, was sie wusste. Nur weil ihre deutschstämmige Mutter, die Melek von der Polizei abholte, die, wie sie bei Gericht zu Protokoll gab, ihre Tochter noch nie in einem solch erbärmlichen Zustand, schneeweiß im Gesicht und total verstört, ausfragte, war die Jugendliche der emotionalen Belastung nicht mehr gewachsen und brach ihr Schweigen. Erst jetzt traute sich Melek, die volle Wahrheit auch der Polizei zu Protokoll zu geben.

In dem anschließenden Prozess vor dem Berliner Landgericht sagte die ehemalige Freundin des Täters, geschützt durch eine kugelsichere Weste und drei Polizeibeamte in Zivil, als Hauptbelastungszeugin aus. Alles, was wir über Tatvorbereitung und Tatmotiv wissen, haben wir wieder einmal zwei Frauen zu verdanken, die, obwohl ihr Leben total aus den Fugen geraten ist und sie im Zeugenschutzprogramm leben, den Mut aufbrachten, die Mauer des Schweigens zu brechen und uns Einblick in eine vormoderne soziale Sphäre zu geben parallel zu unserer ‚Welt‘ der kulturellen Moderne.

Solange die islamische Geistlichkeit nicht alternative Sichtweisen und sogar das Abtrünnig-Werden aus der Religion ausdrücklich gestattet, so lange wird die muslimische Wagenburg der Großfamilie ihren Kindern das Beschreiten eines eigenen Lebensweges untersagen.

Die säkulare freiheitliche Demokratie muss universelle Menschenrechte durchsetzen und darf Niemandem, auch keinem Kollektiv, Sonderrechte gewähren. Internationale Frauentage und Aktionstage gegen häusliche Gewalt dürfen keine Schaufensterveranstaltung sein.

Ümmühan Karagözlü

Islamkritisches Lied. Für Hatun

Oktober 19, 2007

Der Pfahl der Scharia

Hatun Aynur aus Kreuzberg

1.

Hatun, die wollte es wagen

nach Freiheit stand ihr der Sinn

wollte kein Kopftuch mehr tragen

Lebenslust war ihr Gewinn.

Siehst du Pfahl der Scharia,

mit unsern Fesseln umschnürt?!

brechen wir jede Taqiyya:

ran an ihn – dass er sich rührt!

Du kommst zu mir – ich helfe dir!

Wir spüren Leid bei ihm und ihr.

Nur für ein selbst bestimmtes Leben

lohnt sich der Kampf. Das wissen wir.

Der Ruf nach Freiheit nie verhallt,

er bringt zusammen Jung und Alt.

Zukunft sich selber aufzubauen,

nicht irgendwann, vielmehr schon bald.

2.

Hatun war sechzehn. Die Eltern

fanden für sie einen Mann,

zwangen sie auch zu der Heirat

weit weg, in Nord-Kurdistan.

Und von dem Mann ward sie schwanger,

sah ihre Träume entflieh`n.

Sie floh die kurdischen Berge,

sie floh zurück nach Berlin.

Sie löste mutig ihr Kopftuch,

nahm Zuflucht im Frauenhaus,

suchte sich selber die Freunde,

da blieb die Drohung nicht aus.

Sie ging im Handwerk zur Lehre

stolz war sie auf`s eig`ne Geld.

Da sprach der Rat der Familie:

Nun sind Pistolen bestellt.

Refr. (leise)

Du kommst zu mir – ich helfe dir!

3

Februar war es, der siebte,

drei Mal der Schuss wiederhallt:

erst dreiundzwanzig, das war sie,

ihr Kind erst fünf Jahre alt.

Wer hielt die tödliche Waffe?

Wen soll bestrafen der Staat?

Drei ihrer Brüder verhaftet,

Einer gestand jene Tat.

Hatuns Tod, der muss dir sagen:

Geh keinen Meter zurück!

Nicht erst die Männerwelt fragen!

Zögern bricht dir das Genick.

Mögen sie zetern von “Schande!“,

kreischen “Ayip!“ schrill und laut.

Brich starrer Tradition Bande:

frei ist nur, wer sich vertraut.

Refr. (laut)

Du kommst zu mir – ich helfe dir!

Text gruppe pik 2007. Für Hatun Sürücü, die 2005 erschossen wurde. Gesungen wird dieses Lied auf die weltweit bekannte Melodie des antifaschistischen Liedes “L`estaca“ vom katalanischen Komponisten Lluís Llach